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Lesen lernen braucht Ausdauer

MONTAGSINTERVIEW Deutschlehrerin im Interview über Lesekompetenz

Bericht und Foto: Stefanie Rösner, Waldeckische Landeszeitung

Vom Fach: Die Lehrerin Kathi Eberlein-Fischer unterrichtet an der Ederseeschule Herzhausen und hat jahrelange Erfahrungen mit Schülern, die das Lesen lernen.

Berichte über eine schlechte Lesekompetenz der Viertklässler haben für Aufsehen gesorgt. Unsere Redakteurin Stefanie Rösner hat mit der Grundschullehrerin Kathi Eberlein-Fischer, die an der Ederseeschule in Herzhausen Deutsch in der Grundschule und weiterführenden Schule unterrichtet, darüber gesprochen.

Frau Eberlein-Fischer, laut einer aktuellen Studie (IGLU) können deutsche Grundschulkinder deutlich schlechter lesen als vor 20 Jahren. Auch im internationalen Vergleich schneiden sie schlecht ab. Was haben Sie gedacht, als Sie die Nachrichten darüber gelesen haben?

Ich habe gedacht, dass es gut ist, dass das Thema angesprochen wird. Denn wenn es öffentlichkeitswirksam diskutiert wird, wird eher etwas unternommen.

Sie können die Ergebnisse also bestätigen?

Ja, im Durchschnitt können die Kinder schlechter lesen. Das betrifft alle Kinder, ob mit oder ohne Migrationshintergrund.

Woran machen Sie das fest?

Ich erlebe es, dass selbst in der fünften Klasse einfache Wörter wie „still“ oder „stumm“ nicht bekannt sind. Viele Kinder verstehen das Gelesene gar nicht – sie lesen dann einfach darüber hinweg.

Wie müsste der Entwicklungsstand in dem Alter eigentlich sein?

Viertklässler sollten das, was sie lesen, verstehen und Interesse für den Inhalt entwickeln können. Viele Fünftklässler lesen relativ flüssig, aber ohne Punkt und Komma, also ohne Pause und ohne Intonation.

Seit wann haben Sie diese Entwicklung bei Ihren Schülern festgestellt?

Vor rund 20 Jahren habe ich mich als Lesekompetenzbeauftragte fortbilden lassen. Damals wurden im Unterricht regelmäßige Lesezeiten eingeführt. Diese wurden aber zurückgefahren. Meine Vermutung ist, dass die Verschlechterung vor allem mit der Verbreitung der Smartphones ungefähr seit dem Jahr 2007 eingesetzt hat und dass in Familien immer weniger gelesen wird.

Auch Grundschüler nutzen bereits Smartphones?

Ja, mittlerweile nutzen selbst auch die jüngsten Schüler häufiger eigene Smartphones.

Welche Regeln zur Nutzung gelten an der Schule?

Elektronische Geräte dürfen in der Grundschule der Ederseeschule nicht genutzt werden. Smartphones müssen im Ranzen verbleiben und dürfen erst nach dem Unterrichtsvormittag zur Benachrichtigung von Eltern genutzt werden. Grundschüler bringen zwar daher sehr selten ihr Smartphone mit, aber einige Kinder tragen mittlerweile Smartwatches (Computeruhren).

Und diese können die Kinder leicht ablenken?

Ja. Eltern schenken so etwas häufig, um ein Sicherheitsgefühl zu haben. Kinder nutzen es für Spiele und für Nachrichten. Viele haben auch Zugang zu Tablets mit Spielen.

Wie wirkt sich das auf das Lesenlernen aus?

Lesen lernen ist ein anstrengender Prozess. Die Kinder müssen dafür frustrationstolerant sein und aushalten können, wenn etwas nicht sofort funktioniert. Bei Computerspielen aber erleben sie ständig Erfolge und schnelle Belohnung.

Die Kinder haben also weniger Ausdauer zum Lesenlernen als noch vor einigen Jahren?

Ja. Diese Ursache ist aber nur eine von mehreren. Nach meiner Einschätzung hängt es auch damit zusammen, dass vermehrt beide Elternteile und auch zunehmend die Großeltern berufstätig sind und somit Zuhause weniger Zeit und Ruhe fürs Lesen ist. Das Ritual des abendlichen Vorlesens gibt es in vielen Familien leider nicht mehr. Das Lesen wird dann häufig durch Hörspiel-Boxen ersetzt. Das schafft aber nicht die gleiche emotionale Geborgenheit. Abendliches Vorlesen beruhigt, stärkt das Band zwischen Eltern und Kindern, fördert das Interesse am Lesen und erweitert den Wortschatz. Wenn dies nicht mehr gegeben ist, dann bräuchten wir sehr gute Sprachförderung in den Betreuungseinrichtungen. Aber aufgrund des Fachkräftemangels ist das zurzeit nicht ausreichend gegeben. Der Sprachschatz der Kinder ist daher oft nicht mehr so stark ausgebildet.

Wenn Zuhause weniger gelesen wird, fehlen die Vorbilder.

Es wäre wünschenswert, wenn die Kinder Vorbilder fürs Lesen hätten. Aber selbst Zeitungen sind heutzutage digital. Die Kinder sehen dann nicht, was ihre Eltern lesen.

Dabei soll sich doch die Digitalisierung mehr in den Schulen durchsetzen.

Wir können die Kinder tatsächlich oft besser mit den Medien erreichen, die sie gewöhnt sind. Ich nutze mit meinen Schülern die Lese-Online-Plattform „Leseo“. Die Kinder lesen dafür zunächst ein Buch und beantworten später über die Plattform Quizfragen zum Inhalt. Es kommt auch auf die Bücher an. Viele Bücher sind inhaltsleer, wie manche Glitzer-Einhorn-Bücher. Ich habe aber mit interessanten Büchern wie „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ und „Der Findefuchs“ die Erfahrung gemacht, dass die Kinder davon fasziniert sind und so auch ihre Leselust gesteigert wird.

Welche Rolle haben die Einschränkungen durch Corona gespielt?

Meine persönliche Einschätzung ist, dass die Schulpflicht bei einigen lockerer gesehen wird. Eltern erlauben es ihrem Kind dann eher, mal Zuhause zu bleiben, wenn dieses Unlust zeigt. Lesefortschritte fallen dann schwerer. Es kann aber auch mit mehr psychischen Auffälligkeiten bei Kindern zusammenhängen.

Inwiefern?

Wir erleben es, dass Grundschüler im Sozialverhalten Unsicherheiten in der Reflexions- und Konfliktfähigkeit, der Achtung anderer und der Übernahme von Verantwortung zeigen. Ihnen fehlen die Zeiten mit Kontakt zu anderen Kindern, als die Kitas aufgrund der Kontaktbeschränkungen geschlossen waren. Sie sind es weniger gewohnt, dass sie ihre Bedürfnisse in einer großen Gruppe mal hintenan stellen müssen.

Wie können Sprach- und Lesefähigkeit wieder gestärkt werden?

Kinder brauchen Beziehung. Mit ihnen muss gesprochen werden. Sich am Abend zum Beispiel darüber zu unterhalten, ob sie an diesem Tag etwas gestört hat, was ihnen besonders gut gefallen hat, das stärkt die Bindung und fördert den Wortschatz. Ihnen sollte außerdem regelmäßig vorgelesen werden. Mit einem zweijährigen Kleinkind kann man beispielsweise für einen Monat vier Bilderbücher aus der Bücherei aussuchen, ausleihen und dann jede Woche ein Buch lesen und zum Thema machen. Darüber hinaus muss unsere Gesellschaft mit ihrem demografischen Wandel und dem Fachkräftemangel deutlich mehr Geld für die Bildung der Kinder ausgeben. Denn wenn beide Eltern im Job gebraucht werden, benötigen die Kinder kompetente Gesprächs- und Beschäftigungspartner, damit sie gut lernen können.

Was müsste in den Einrichtungen besser werden?

Die Kinderbetreuung muss dringend mit mehr Personal ausgestattet werden. Das betrifft die Sprachförderung in Kitas, wo zum Beispiel ein deutlich stärkerer Einsatz von Logopäden erfolgen müsste. Auch die Hausaufgabenbetreuung in der Grundschule muss über mehr Fachkräfte verfügen, damit dort auch mit den Kindern gelesen werden kann. Lücken sollten nicht einfach mit Ehrenamtlichen gefüllt werden, sondern wer hier tätig ist, muss auch gerecht entlohnt werden. Unser Land ist solch ein reiches Land, aber im Vergleich zu anderen europäischen Ländern geben wir deutlich weniger für den Bildungssektor aus. Die Schüler von heute brauchen aber bessere Bildung, wenn sie später auf dem Arbeitsmarkt unterwegs sind. Bildungsungerechtigkeit können wir uns daher auf Dauer nicht leisten und sollten sie uns auch nicht mehr leisten wollen.